Mittwoch, 9. Dezember 2015

Fallout 4 < Fallout 3 < New Vegas: Warum früher alles besser war.

Früher war alles besser. Mit diesem Gefühl sind Neonazis und ins Heim abgeschobene Omis nicht allein. Wir alle setzen uns von Zeit zu Zeit das rosarote Nasenfahrrad auf. Erst in der Retrospektive, aus der zeitlichen Distanz heraus, dämmert uns, wie verrückt eine bestimmte Ex war, was für beschissene Klamotten wir in den jämmerlichen Jahren unter 20 getragen haben und reaktionär, affektiert und verwerflich unsere Meinung über ALLES war (man hatte ja eine Meinung zu allem), bevor wir zu so etwas wie einem vollständigen Menschen wurden.


Ich habe Fallout 3 geliebt. Ich habe New Vegas noch viel mehr geliebt. Als Fallout 4 kam, habe ich es in den ersten sieben Tagen auf über 50 Stunden geschafft. Real-Life-Dinge (lästige Dinge wie Arbeit, Wäsche) kamen dazwischen. In der Zeit, in der ich nicht Fallout 4 gespielt habe, drehten sich meine Gedanken um Fallout 4. Es war eine wundervolle Zeit mit einem tollen Spiel. Aber etwas hat gefehlt. Als ich genug hatte, habe ich Fallout 3 eingelegt (in die X One. Danke, Rückwärtskompatibiliät), um einen zeitnahen, direkten Vergleich zu haben. Es war das dritte Mal, dass ich Fallout 3 "durchgespielt" habe, falls man bei Fallout überhaupt davon reden kann. Waren meine Erinnerungen besser, glamouröser, signifikanter und großartiger als die tatsächliche Sache?


Nein. Im Gegenteil. Fallout 3 ist noch immer eins der besten RPGs, die ich je gespielt habe. Schon der Prolog in Vault 101 ist - ironisch angesichts der Tatsache, dass die Welt an der Oberfläche "tot" ist - voller Leben. Voller ausgearbeiteter Figuren, Hintergrundgeschichten, Lore und, ja, Fraktionen. Der machthungrige Aufseher. Butch und seine Tunnel-Snakes-Idioten-Gang. Diese Freundin des Lone Wanderers, deren Namen zu googeln ich gerade zu faul bin. Schon da hat man das Gefühl, dass die einzelnen Figuren viel mehr zu sagen haben als die in Fallout 4 - was auch so bleibt. Als Spieler kann ich jedem NPC in der Welt alle möglichen dummen Fragen stellen, erfahre noch viel mehr über die einzelnen Fraktionen, als das in Fallout 4 der Fall ist. Wenn man dann irgendwann das Licht des Wastelands erblickt, stolpert man direkt über Megaton. Ein Wall aus Flugzeugwrackteilen beschützt die Siedlung, in deren Zentrum eine nicht detonierte Atombombe von einem Haufen Spinner - Church of Atom - angebetet wird. Wenn man Repair Skills hat, kann man den Blindgänger entschärfen; sehr zur Freude des örtlichen Sheriffs. Oder aber man entschließt sich, einem dubiosen Typen zu helfen, das Ding in die Luft zu jagen und damit einem gewissen Tenpenny einen Gefallen zu tun.


Für einen Großteil der Spieler von Fallout 3 wird dies die erste größere Quest sein, der Moment ist prägend und atmet den Geist der vielen, noch folgenden Spielstunden. Ein Konflikt, angesiedelt in einem bemerkenswerten, kuriosen und ideenreichen Szenario, dessen Auflösung mehrere Herangehensweisen zulässt - gekoppelt an Moral als Gamedesign-Konzept. Das brillante Quest-Design und die unzähligen verschrobenen Storys, die damit einhergehen, gehören zu den größten Stärken von Fallout 3. Im Capital Wasteland warten groteske Baum-Mensch-Mutanten mit Todeswunsch auf den Lone Wanderer; Roboter, die sich wegen ihrer Programmierung für eine Aufführung im Jahr 2077 für Gründungsväter der USA halten und die mit aller Kraft die Unabhängigkeitserklärung hüten; arrogante Kinder, die in einer Art unterirdischem Neverland leben und die Alternde vor die Tür setzen; fanatische Nuka-Cola-Fangirls, die ihren Kühlschrank um jeden Preis mit der bläulich schimmernden - kommt von der beigemischten Strahlung - Nuka Cola Quantum füllen wollen. Das alles ist nicht nur einzigartig, einprägsam und in den Bann ziehend, es bietet auch gleichzeitig so viele spielerische und gedankliche Ansätze bezüglich der Problemlösungen.



Im wundersamen Oasis trifft der Lone Wanderer beispielsweise auf einen Kult skurriler Baumanbeter - komplett mit Zweigen an den Klamotten und allem. Und irgendwas ist noch anders: Ach, genau, es ist grün! Im Gegensatz zur kargen, kein Leben gebärenden Einöde des Wastelands, in der dank des atomaren Kriegs im Jahr 2077 erstmal nicht so schnell was wächst, gedeihen in Oasis Pflanzen. Mit der Zeit stellt sich raus, dass das seltsame Phänomen mit dem sprechenden Baum Herbert  - oder Bob; lange Geschichte - zu tun hat. Er selbst, als einstiger Mensch im Rahmen einer Mutation mit einem Baum verwachsen, will sterben, sein bewegungsloses Gefängnis im Diesseits für immer verlassen. Der Lone Wanderer soll sein unterirdisches Herz zerstören. Innerhalb des Baumgott-Kults, von dem der Baum selbst so gar nichts hält, gibt es zwei Lager. Manche plädieren dafür, das Wachstum des Baums künstlich zu beschleunigen, damit das gesamte Wasteland davon profitiert und bald auch jenseits von Oasis wieder Leben gedeihen kann. Das andere Lager interpretiert Herberts Todeswunsch als Rätsel zur Prüfung des Glaubens, denkt, das herbeigesehnte "Sterben" sei in Wahrheit der Wunsch nach einem Wachstumsstopp, den die Jünger Herbert ermöglichen sollen. Man selbst muss sich entscheiden, was schwerer wiegt: das große Ganze? Eigenwillige Exegese? Oder der simple Wunsch eines Einzelnen nach dem Ende seiner Pein?


Es geht mir nicht um einen Detailvergleich mit Fallout 4, das in einzelnen Aspekten sogar besser sein mag als seine Vorgänger. Alles, was ich sagen will, ist das: Fallout 4 erzählt generisch wirkende Geschichten in einer unvergesslichen Welt. Fallout 3 und New Vegas erzählen unvergessliche Geschichten in einer von Zeit zu Zeit generisch aussehenden Welt.